Katalogtext 6. Internationaler André Evard Preis für konkret-konstruktive Kunst, Kunsthalle Messmer
Auf jedem einzelnen Objekt des Vierteilers "imiistschuld" aus dem Jahr 2020 wechseln sich mehrfarbige und vollflächige, mit nur einer Farbe bemalte Flächen ab. Dabei zieht sich jede dieser leuchtenden und alternierenden Farben in die Muster hinein und springt zugleich auf die anderen geometrischen Formen über. Farbe wird rhythmisch durchdekliniert, die Größe der Werkkörper variiert.
Der humorvolle und heitere Ansatz in den Arbeiten Tödters zeigt sich auch in den Titeln. In diesem Fall: imiistschuld. Ist er ja auch, ganz konkret.
Ilia Castellanos, C4
6. internationaler André Evard Preis. Kunsthalle Messmer, Riegel. Eröffnung: Freitag, 03. Dezember 2021.
Einführung: Dr. Antje Lechleiter ©, Freiburg.
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit dieser Ausstellung anlässlich des 6. André Evard Preises ist es Jürgen Messmer und seinem Team wieder einmal gelungen, ein beeindruckendes Mammutprojekt zu verwirklichen. Insgesamt hatten sich rund 500 Künstlerinnen und Künstler beworben. Aus deren Einsendungen wurden 100 Arbeiten ausgewählt. Mit der Ausstellung und dem verbundenen, hoch dotierten Preis leistet diese Präsentation einen wichtigen Beitrag zur Förderung zeitgenössischer Positionen innerhalb der geometrischen Abstraktion.
Die Anfänge dieser Kunstrichtung liegen in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als in Russland aus der Nachfolge von Kubismus und Futurismus der "Konstruktivismus" entstand. Wenig später fand sich in den Niederlanden die "De Stijl" Bewegung zusammen. In Deutschland wurde der Gedanke in den 1920er Jahren vor allem durch das Bauhaus weitergetragen, doch auch in Polen, Ungarn, Italien, Frankreich und in der Schweiz gab es wichtige Zentren. Die Entwicklung dieser Kunstrichtung versteht sich auch aus der zunehmenden Technisierung am Anfang des 20. Jahrhunderts. Dieser Ansatz setzt sich heute, im Zeitalter der Digitalisierung, fort. Denn wenn nicht mehr der emotionale, sondern der verstandesmäßige Zugang und das Einbeziehen technischer Neuerungen im Zentrum des Interesses steht, dann ist es selbstverständlich, dass auch der Computer zum Einsatz kommt. Das "Digit Eye" von Michel Bugaud wurde computergesteuert gefertigt, das Raster in Ken Clarrys Grafik mit einer Computersoftware bearbeitet.
Die an der heutigen Ausstellung Beteiligten stammen aus 14 Ländern. Die Schweiz, Frankreich und Deutschland sind sehr gut vertreten, darüber hinaus haben wir Teilnehmende aus Österreich, Italien, Großbritannien, der Türkei, der Ukraine, aus Argentinien, Chile und Japan zu Gast. Die Niederlande, also die Heimat der "De Stijl Bewegung", ist ebenfalls mehrfach vertreten, Künstler aus Polen und Ungarn zeigen wiederum den hohen Stellenwert, den die konkret-konstruktive Kunst nach wie vor in Osteuropa hat.
Die Konkrete Kunst wandte sich in ihrem ursprünglichen Sinne gegen die Darstellung von Vorgaben aus der Natur bzw. der sichtbaren Umgebung und gegen erzählerische Inhalte. Dennoch zeigt sie konkret Benennbares: Nämlich Linien, Flächen, Formen und Farben. Wie wir heute sehen, spannt sich der Bogen inzwischen wesentlich weiter, einige Werke beziehen sich auf politische oder gesellschaftliche Ereignisse. Angelika Schoris Installation "Under the seacloud" setzt sich mit den Plastikabfällen in den Weltmeeren und den Folgen für Tiere und Natur auseinander. Mir gefällt, wie dieses Werk im Verbund mit Barbara Jägers leuchtendem Rosengarten und der kinetischen Arbeit "Wo befinden wir uns JETZT?" von Sabine Reibeholz und Marc von Reth gleich zu Beginn der Ausstellung zur Reflexionsfläche wird – über die Welt, in der wir leben. Die Computergrafik "Tausendundeinenacht" von Grit Reiss entwickelte sich aus einer Onlineveröffentlichung über kulturelle Integration. Dort war die Fotografie eines Feldbettenlagers für Flüchtlinge abgebildet."Tausendundeinenacht" ist ein assoziationsreicher Titel und es ist interessant, dass sich in den Titeln oft schon die zunehmende Vielschichtigkeit der konkreten Bezüge ausdrückt. Der Erfahrungswelt entlehnt ist die Bezeichnung "Das Fenster zum Hof", das zum Architekturwolkenbild von Kathrin Hoffmann gehört oder auch der Titel "Alles im Lot", der sich auf Konrad Wallmeiers mehrdeutige Arbeit aus einer Ansammlung von roten und blauen Wasserwaagen bezieht. Petra Tödter nennt ihre Arbeit "imiistschuld" und meint damit den Dessauer Minimal Art Künstler Imi Knoebel. Häufig dient der Titel jedoch einfach einer klaren Beschreibung dessen, was wir sehen: Bei Axel Becker ein "Oranges Quadrat", bei Eva Kuhl die "Quadratur im Kreis" und bei Susanne Werdin "3 Quadrate, verschmolzen, in Rot". Natürlich gibt es auch rein archivalische Bezifferungen, "Bild Nr. 107" heißt das Werk von Julia Breunig, "Construction P4B" jenes von Jean Charasse. Damit wird der klare und sachliche Charakter dieser Werke noch unterstrichen. Klarheit und Sachlichkeit trifft auch auf mathematische Systeme zu. Dass jene über eine große Schönheit fern der gegenständlichen Welt verfügen, sehen wir bei Gisela Pletschen und Ilse Aberer, die mit dem Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes arbeiten, bei der Fibonaccireihe, die dem Werk von Laszlo Otto eingeschrieben ist, sowie bei den Gemälden von Irene Schramm-Biermann, die sich mit dem Satz des Pythagoras beschäftigen. "Sinusverwandlungen" nennt Werner Zemp sein harmonisch geschwungenes Kunststoffrelief.
Formal überschneiden sich die konkreten Positionen mit anderen Strömungen. In unserer Ausstellung etwa mit der interaktiven und elektromechanischen Kinetik, der Lichtkinetik, der Op-Art sowie mit der Minimal Art. Sehen wir uns das einmal näher an: Zur interaktiven Kinetik zählt das Werk von Roland Humair, hier dürfen wir selbst tätig werden und die Buchstaben auf den Holzzylindern in neue Zusammenhänge bringen. Zur elektromechanischen Kinetik gehören Objekte, deren Bewegung durch Motoren erzeugt wird, wie das beispielsweise bei dem faszinierend flimmernden Werk "Time Patterns I" von Michael Bom der Fall ist. Auch die Arbeit von Werner Dorsch dreht sich, und auf diese Weise wird der 3D Effekt der gemalten Würfelstruktur vollkommenen zur Entfaltung gebracht. Innerhalb der Lichtkinetik ist künstlich erzeugtes Licht für die Bewegung oder für die atmosphärische Wirkung eines Kunstwerkes verantwortlich. Zu diesem Teilbereich der Kinetik zählt die immateriell zwischen Stahlstäben schwebende Ellipse von Yoshiyuki Miura.
Für die Op-Art, also die Optical Art, gilt, dass sich die Bilder nicht selbst bewegen, sondern beim Betrachter den Eindruck von Bewegung erzeugen. Die Werke von Ursa Schoepper, Carla Bertone und Christine Löw hängen in der Ausstellung nebeneinander an einer Wand und entfalten dort gemeinsam ein das Auge irritierendes Spiel mit der Wahrnehmung von Räumlichkeit. Einen starken Trompe-l’oeil-Effekt gibt es auf Ruth Senns zartfarbiger Gitterstruktur und mit den Augen nicht fixierbar sind die 2.809 kleinen Quadrate, welche die Bildfläche von "Square IV", einem Werk von Brigitte Sterz, gliedern. Sehen Sie sich nachher unbedingt die goldgelbe Arbeit von Astrid Schröder auch von der Seite an, denn erst dann wird klar, dass es sich definitiv nicht um ein Relief handelt!
Der Übergang von Konkret-Konstruktiv zur Minimal Art verläuft fließend, denn auch hier geht es um eine Formensprache, in der einfache Grundstrukturen in serieller Reihung zu größeren Arbeiten zusammengefügt werden. Das ist beispielsweise bei Stephan Siebers Stahlarbeit "Layering II" und Fumiari Ogawas Werk "Schwarzer Kubus" aus Holz, Metall und Graphit der Fall.
Der Raum hinten rechts ist dem Thema "Kreis" gewidmet. Dort findet sich eine Wand, in der das ganz Große ins ganz Kleine führt. Wir sehen die Grautöne der Kreisbahnen von Pilar Colino in unmittelbarer Nachbarschaft mit den starkfarbigen Kreisabschnitten von Ursula Hierholzer und der runden Arbeit "Time record" von Veronika Moshnikova. Letztere setzt sich aus einer Unzahl winziger Farbpunkte zusammen und verhandelt das Thema "Zeit". Hier sind es Zeitpunkte, bei Pierre Millottes Arbeit "Nächtekalender (Juni 92 - Febr. 93)" reihen sich hingegen leuchtend farbige "Zeitlinien" vertikal aneinander.
Rund 15 skulpturale Werke befinden sich in der Ausstellung. In seiner dicht gepackten Körperlichkeit beeindruckt der "Würfel" aus Edelstahl von OMI Riesterer, federleicht wirkt hingegen die weiße Stahlskulptur "1480" Grad von Faxe Müller. Mit seiner "Endlosschleife" ist der Gewinner des 5. André-Evard-Preises, Rüdiger Seidt wieder mit dabei und ganz am Ende der Ausstellung treffen wir schließlich auf ein weiteres, gleich dreifaches, Endlosband. Es ist leuchtend blau und stammt vom Essener Künstler Will Rumi.
Sehr geehrte Damen und Herren, wenn man sich die Liste der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler am André-Evard-Preis über die Jahre hinweg ansieht, kommt man zu einer schönen Erkenntnis. Diese Kunstrichtung hat sich in den letzten 10 Jahren nicht nur deutlich verjüngt. Nachdem die konkret konstruktive Kunst lange Zeit eine absolute Männerdomäne war, haben wir nun ein schon fast ausgeglichenes Verhältnis zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Bei einer Zahl von 100 Beteiligten konnten natürlich nicht alle genannt werden und so gibt es für Sie Vieles noch selbst zu entdecken. Gehen Sie nachher auch in die Galerie M, denn dort wird unter dem Titel "Farbrausch" eine Ausstellung zum Oeuvre von André Evard gezeigt. Seine Werkserie "Abstrakte Komposition", zu der auch eine kleine Collage von 1930 gehört, ermöglicht einen wunderbaren Rückblick in die erste Phase der konkret-konstruktiven Kunst.
Mir bleibt nun ein herzliches Dankeschön an Jürgen Messmer zu richten, dem es mit seinen Ausstellungen immer wieder gelingt, Menschen für Kunst zu begeistern.